Wie die Inklusion entwicklungstraumatisierter Kinder gelingen kann

13. Oktober 2022

(Aus einem Beitrag im September-Newsletter von „Inklusion jetzt!“)

Entwicklungstraumatisierte Kinder sind nicht eindimensional sozial oder körperlich benachteiligt, sie sind entwicklungsbenachteiligt und damit für Zugänge zur Gesellschaft vielschichtig ausgeschlossen.

Wer in frühen und sensiblen Phasen der eigenen Entwicklung (null bis fünf Jahre) von (nahestehenden) Menschen (Vater, Mutter, …) über längere Zeit hinweg misshandelt, sexuell missbraucht, vernachlässigt beziehungsweise mangelernährt wird oder in anderweitig lebensverachtenden Umständen im Dunkeln unserer Gesellschaft aufwächst, wird frühzeitig und anterograd, das heißt, für das weitere Leben, in seiner neuronal-kognitiven, psychischen, sozialen und emotionalen Entwicklung eingeschränkt und behindert. Entwicklungsdefizite, massive psychische Veränderungen und Anpassungsleistungen, die wir in unserer Gesellschaft als (destruktive) Verhaltensauffälligkeiten wahrnehmen, sind die Folge und prägen die weiteren Entwicklungsbahnen dieser Kinder. So gibt es Kinder, die im Alter von fünf Jahren in unsere Einrichtungen kommen und kein Wort sprechen. Zum ironischen Leidwesen der Pädagog*innen hat eine erfolgreiche sozialpädagogische Arbeit zur Folge, dass das Kind, nachdem der Damm sprichwörtlich gebrochen ist, scheinbar die verpassten Worte der vergangenen Jahre nachzuholen versucht und in unablässige Redeschwalle gerät. Andere Kinder, bereits im frühen Schulalter, haben eine so geringe Frustrationstoleranz, dass sie über mehrere Stunden regelrecht in Schreikrämpfe geraten und Umsichschlagen explodieren, wenn der Tag nicht wie geplant stattfinden kann, weil es beispielsweise in Strömen regnet. Die Konsequenzen für die Teilhabe in den Regelstrukturen des Bildungssystems und für ein eigenverantwortliches Leben im Erwachsenenalter sind denkbar schwerwiegend. 

Unsere Wege der Inklusion

Häufig werden Kinder, die in den oben genannten Bedingungen aufwuchsen, fremd untergebracht (Pflegefamilie, Erziehungsstelle oder Heim). Der Kinderbauernhof und die zugehörigen Nachfolgeprojekte des Instituts für wirkungsvolle Sozialarbeit e. V. (iWS) sind stationäre Heimunterbringungen, in welchen seit 2012 den Bedarfen und Bedürfnissen entwicklungstraumatisierter Kinder Rechnung getragen wird. Aus der Überzeugung heraus, dass einige dieser Kinder mit entsprechender Vorbereitung, Begleitung und Beratung in Pflegschaften haltbar sind, beschreitet das iWS mit dem Projekt „Qualifizierte Pflegschaft für entwicklungstraumatisierte Kinder“ (PEK) einen weiteren Weg zur Inklusion entwicklungstraumatisierter Kinder über die Unterbringung in Familien von besonders qualifizierten und begleiteten Pflegeeltern. Ziel ist die bestmögliche Entwicklung entwicklungstraumatisierter Kinder in Pflegschaften.

Qualifizierte Pflegeeltern für entwicklungstraumatisierte Kinder als nachhaltige Inklusionskatalysatoren

Der entscheidend Inklusionsvorteil einer Unterbringung bei Pflegeeltern gegenüber einer Heimunterbringung – so gut sie qualitativ auch arbeitet – ist die Verankerung des Kindes in einer Familie. Diese ist damit auch eine Anlaufstelle für Sorgen, Fragen und Probleme, mit der sich das Kind und die/der junge Erwachsene nach der Verselbstständigung (ab 18 beziehungsweise 21 Jahren) verbunden fühlt und sich anvertrauen kann. Denn: So sehr das stetig professioneller werdende Careleaving die Übergänge der jungen Erwachsenen verbessert, ersetzt sie doch keine Familie, an die man sich auch in den Jahren danach verlässlich wenden kann.

Gute sozialpädagogische Arbeit mit entwicklungstraumatisierten Kindern ist gute Inklusionsarbeit

Unabhängig von der Art der Fremdunterbringung stehen die verantwortlichen Personen, also Pflegeeltern, Erziehungsstellenfachkräfte oder des Fachpersonals der Wohngruppe, vor den gleichen sozialpädagogischen Aufgaben mit entwicklungstraumatisierten Kindern: Sie müssen die Kinder in die Lage versetzen, Entwicklungsdefizite aufzuholen, ihre Persönlichkeit zu stabilisieren und zu entwickeln, ihre destruktiven Verhaltensweisen umzulernen, Selbststeuerung zu erlernen und ihre altersgerechten Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Nur so haben entwicklungstraumatisierte Kinder eine Chance, sich zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu entwickeln (§ 1 SGB VIII). Das heißt, gute sozialpädagogische Arbeit ist gute Inklusionsarbeit. 

Schätzungen zufolge sind 42 bis 64 Prozent der bei Pflegeeltern untergebrachten Kinder traumatisiert. Entsprechend ist es aus einer Inklusionsperspektive mit § 1 SGB VIII im Blick angezeigt und notwendig, die Pflegeeltern zu einer guten sozialpädagogischen Arbeit mit entwicklungstraumatisierten Kindern zu befähigen. Wir sind davon überzeugt, dass geeignete Pflegeeltern ohne pädagogische Vorqualifikation mit unserer Ausbildung, Beratung und Begleitung dies leisten und daran eine besondere Form der Selbstverwirklichung neben der eigenen Arbeit erleben können.

Was wir auf diesem Weg tun

Die Integration des entwicklungstraumatisierten Kindes in eine tragfähige Pflegefamilie und die sozialpädagogische Aufwertung der Aufwachsensbedingungen ermöglichen eine bessere gesellschaftliche Teilhabe und einen Abbau der Benachteiligungen, die durch frühkindliche Missstände und strukturelle Begrenzungen vermehrt werden. Dazu wollen wir über folgende Leistungen beitragen:

  • Fachberatung für Pflegeeltern von Kindern mit manifestierten oder vermuteten Entwicklungstraumata
  • Ausbildung von Pflegeeltern für entwicklungstraumatisierte Kinder (gemäß § 33 Satz 2 SGB VIII) und ergänzende Weiterbildungen
  • Modellprojekt zur ganzheitlichen Auswahl, Ausbildung, Begleitung und Beratung von entwicklungstraumatisierten Kindern

Weiterführend beschäftigen uns insbesondere Fragen danach, wie eine ganzheitliche Lösung aufgebaut und für entwicklungstraumatisierte Kinder nutzbar gemacht werden kann, welche die Verbindung aus Einzelhilfen überwindet und einen ganzheitlichen Erziehungs- und Entwicklungsansatz orientiert an der Lebensweltrealität des Kindes praktiziert. Hierzu haben wir ein Modellprojekt entwickelt, zu dem wir anschlussfähige Netzwerkpartner suchen. Interessierte Mitarbeiter*innen aus den Strukturen des Jugendamtes und interessierte Pflegeeltern oder solche, die es werden wollen, können über die Website Kontakt zu uns aufnehmen.

Aus dem erkannten Bedarf, dass Privatfamilien vor ähnlichen Herausforderungen mit leiblichen Kindern stehen können, haben wir über das iWS eine Praxis zur privaten und auf Wunsch anonymen Beratung von Familien eingerichtet. Informationen hierzu finden Sie auf www.praxis-iws.com.